Große Männer und ihre Pferde sind in Mythologie, Literatur, aber auch der Geschichtsschreibung vielfach beschriebene, sich gegenseitig verstärkende Kraftpaare. Bis heute spielen Pferde für die Selbstdarstellung von Potentaten eine zentrale Rolle. Alexander der Große und Bucephalus sind bereits in frühen Berichten mit den Halbgöttern und ihren berühmten Pferden gleichgesetzt worden. Fasziniert von dem makedonischen Herrscher und seinem monströsen Pferd sind auch die mittelalterlichen Autoren. Sie schildern ein wundersames Gespann, in dem der Mensch und das Tier eng miteinander liiert, in ihrer Hybridität verwandt sind und einen wechselseitigen Austausch mit unklaren Grenzen pflegen. Diesen literarischen Phantasmagorien versuchen die Buchmaler ein zeitgemäßes Aussehen zu verleihen, wobei sie die literarisch durchaus darstellbaren Abnormitäten in eine Bildersprache übersetzen müssen, die für ihre Rezipienten akzeptabel sind. Alexander gilt im Spätmittelalter als tugendhaftes, tapferes Vorbild, wenn nicht sogar als Vorfahr der Auftraggeber und kann somit nur positiv erscheinen. Seine geheimnisvollen, monströsen Elemente werden auf Bucephalus und das Verhalten der beiden projiziert.
In einer Reitergesellschaft wie der spätmittelalterlichen, bietet dieses Paar den Buchmalern somit Anlass, ihren Vorstellungen von der rätselhaften Verbindung von Ross und Reiter, einer ambivalent verstandenen Monstrosität und letztlich dem Fremden Ausdruck zu verleihen. Doppelgänger-Motive, animistische und totemistische Konzepte liegen manchen Illustrationen zugrunde und lassen innerhalb der hier behandelten Handschriften eine Vielfalt von Modellen der Beziehung von Mensch und Tier aufscheinen. Diese Konzepte zum Verhältnis von Mensch und Natur ist einem heutigen ökologischen Bewusstsein scheinbar nicht unähnlich. Die Motivationen hierzu sind jedoch andere. Es geht meist um die Herleitung unerklärlicher Macht, um die Begründung von gesellschaftlichen Distinktionen und Auszeichnungen, die unmittelbar basieren auf der Verbindung zu dem vorbildlichen legendären Paar.
Naheliegend wäre, dass die Art der Distinktion sich in den unterschiedlichen Milieus der Rezipienten gravierend ändert. Der Vergleich städtischer Beispiele aus dem frühhumanistischen Augsburg mit weitgehend für den französischen oder englischen Hof geschaffenen Handschriften lässt zwar sehr unterschiedliche Intentionen der Bilder erkennen. Das Grundinteresse jedoch, das Paar als Urgrund der eigenen Position nicht nur in der Welt, sondern vor allem in der Geschichte zu verstehen, bleibt vergleichbar.