Im Rahmen des Bachmann-Preis-Wettbewerbs im Jahre 2016 trug Tomer Gardi einen Text vor, der in der Diskussion starke Ablehnung hervorrief. Dabei handelte es sich um einen Auszug aus Gardis zweitem Roman Broken German, der noch im Herbst desselben Jahres erschien. Da Gardi seinen Text in scheinbar fehlerhaftem Deutsch und mit deutlichem Akzent vortrug, herrschte für die Mehrzahl der Juror*innen kein Zweifel, dass man es mit einem zu tun habe, der so schreibt, wie er ist - das heißt: mit einem naiven Künstler. Im Rückblick kann mühelos rekonstruiert werden, dass Gardi die Jury auf mehreren Ebenen an der Nase herumführte. Die Kollision trügerischer Erwartungen berührt eine ganze Reihe an Fragen, welche die Zuschreibung und Verwendung von Naivität in der Gegenwartskultur aufwirft: Wie begegnen Leser*innen einem Text, der scheinbar die Grundvoraussetzungen literarischer Kommunikation verletzt? Gehört Naivität zum Grundinventar subversiven Schreibens, das bestehende Ordnungen in Frage stellt? Gibt es naives Schreiben auch außerhalb fiktiver Maskeraden? Welche kulturellen Paradigmen sind wirksam, wenn naive Konfigurationen in einem Werk aufscheinen? Der vorliegende Band setzt sich mit Texten der Gegenwartsliteratur auseinander, die sowohl aus dem Bereich des interkulturellen wie kindlichen Erzählens, aber auch der Popliteratur und Science Fiction kommen. Die Analyse von Spielarten der Naivität schließt an die kritische Dekonstruktion jeglicher Natürlichkeitsvorstellungen an, die sich in den Postcolonial Studies wie auch den Gender Studies etabliert hat. Gleichzeitig wird nach dem Bestehen >wahrhaftig< naiver Erzählhaltungen gefragt, wie sie vor allem in Bestsellern der Gegenwart spürbar sind, die sich zu moralischen Urteilen aufschwingen. Um diese Fragen zu klären, wird auf eine drei Jahrhunderte währende Begriffsgeschichte geblickt, die »Naivität« als Chiffre für authentisches ebenso wie rückständiges Dasein liest und dabei stets zwischen Rhetorik und Ethik oszilliert.